Von Bhante Sujato; deutsch von Anagarika Sabbamitta
Wir sehen den Buddhismus als einen Weg des Friedens und der Liebe, eine Philosophie und Lebensweise, die sich an den höchsten Prinzipien orientiert. Daher kann es etwas überraschen, wenn man entdeckt, dass die buddhistischen Texte sich recht ausgiebig mit legalistischen Prozeduren beschäftigen; diese Texte sind hauptsächlich im Korpus des klösterlichen Rechts zusammengetragen, das als der Vinaya bekannt ist. Solche trockenen Ordensregeln erscheinen veraltet und kleinlich und häufig furchtbar unbedeutend. Aber der Vinaya ist ein äußerst wichtiger Nachweis, zeigt er doch systematisch, wie die Weisheit des Erwacht-Seins auf praktische und bodenständige Weise angewendet wird, vor allem dabei, eine Gemeinschaft zu leiten. Das Erstaunliche ist nicht, dass ein 2.500 Jahre alter Kodex in Teilen überholt ist, sondern dass so viel davon noch von Bedeutung ist.
Eins der vorrangigen Anliegen des Vinaya ist es, einen Rahmen für den Aufbau einer harmonischen Gemeinschaft zu bieten. Meiner Meinung nach ist das der Punkt, an dem der Vinaya seinen größten Wert zeigt und der gleichzeitig am wenigsten beachtet wird. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass man ohne Schwierigkeiten Gemeinschaften finden kann, die auf den trivialsten Regeln bestehen über die Art, wie man seine Robe zu tragen hat, oder vor wem man sich verbeugen muss, dass es aber fast unmöglich ist, auch nur eine Gemeinschaft anzutreffen, die die Richtlinien des Buddha für das Führen einer Gemeinschaft ernst nimmt. Fast!
Der Buddha stand vor einem schwierigen organisatorischen Problem. Der Sangha besaß Klöster, deren Leitung ein gehöriges Maß an Organisation erforderte. Es mussten Mahlzeiten arrangiert werden, Gebäude mussten errichtet und dann unterhalten werden, es musste gekehrt werden, Schüler mussten angeleitet, Roben geflickt, Vorräte verwaltet werden und so weiter. Aber buddhistischen Mönchen und Nonnen ist eine natürliche Wanderlust zu eigen: Sie mögen es wirklich nicht, irgendwo zu lange festzusitzen. Wie kann man also eine gewisse Stabilität in einem Kloster gewährleisten, wenn die Menschen ständig wechseln? Dazu kam noch, dass die Klöster über einen weiten Bezirk verteilt waren, und es gab keine Möglichkeit, rasch untereinander zu kommunizieren. Wie kann man Entscheidungen treffen, die Autorität besitzen, wenn das Kloster dem „Sangha“ gehört, aber der Sangha ein dezentrales Gebilde ist?
Er löste das, indem er ein paar Schlüsselprinzipien für die Verwaltung einführte. Diese setzen voraus, dass der Fokus bei der Leitung eines Klosters von einer Person zu einem Prinzip verschoben wird. Das ist natürlich die gleiche Idee, die auch modernen Demokratien zugrunde liegt. Für den Buddha hieß das allerdings, dass er ein Beispiel geben musste, indem er sich selbst aus dem Geschehen zurücknahm. Er musste seine Nachfolger ermächtigen, wichtige Entscheidungen unabhängig zu treffen. Die oberste unter diesen Entscheidungen ist die Fähigkeit, die Ordination zu erteilen. Sie ist die Grundlage dafür, dass der Sangha überhaupt existiert. Im ersten Kapitel der Vinaya-Khandhakas delegierte er daher die Autorität, die Ordination zu erteilen, an den Sangha.
Mit der Ausbreitung des Sangha entlang des Gangestals wird das Treffen von Entscheidungen jedoch bald schwerfällig. Der Sangha hat zu entscheiden, aber wie können wir den gesamten Sangha zusammenbringen? Darauf wird im zweiten Kapitel der Khandhakas eingegangen, welches den Ablauf des „Sabbat“ oder uposatha erklärt, der alle vierzehn Tage abzuhalten ist und in den alle Mitglieder des Sangha eingebunden sein müssen. Innerhalb des Sangha sind alle gleich. Alle Entscheidungen sollen im Konsens getroffen werden, mit der Zustimmung aller Mitglieder. Wenn selbst das frischeste Sanghamitglied einen Einwand zu einer Ordination oder einem anderen Verfahren vorbringt, kann nicht fortgefahren werden. Es gibt im Sangha keine zusätzliche Macht oder Autorität, die mit einem Ältestenstatus oder einem hohen Ansehen einhergeht. Als allgemeine Regel sollten Ordensälteste mit Respekt behandelt werden, und ihr Rat sollte angehört werden. Aber die letzte Entscheidung liegt bei den Mitgliedern, und sie basiert auf absoluter Gleichberechtigung.
Zu diesem Zweck wird der Sangha als die Gesamtheit aller Mönche oder Nonnen definiert, die sich innerhalb der Klostergrenze (sīma) eines bestimmten Ortes aufhalten. So wird die Autorität an den Sangha delegiert; alle Sanghamitglieder sind gleichberechtigt; und diese Autorität kann von jedem einzelnen Sangha eines Ortes voll ausgeübt werden, solange alle Mönche oder Nonnen des betreffenden Bezirks eingebunden sind.
Man beachte, dass ich hier „Mönche oder Nonnen“ sage, und damit möchte ich darauf hinzuweisen, dass es entweder Mönche oder Nonnen sein müssen, nicht beides; der Vinaya sieht nicht vor, dass Mönche und Nonnen offizielle Entscheidungen gemeinsam treffen, außer in ein paar Spezialfällen. Die Trennung des Sangha beim Entscheidungsprozess stellt offensichtlich ein Problem dar, aber ich finde, es ist wichtig, anzuerkennen, dass das die Haltung des Vinaya ist. Sie ermöglicht den Nonnengemeinschaften, ihre eigenen unabhängigen Entscheidungen zu treffen, und Mönche haben kein Mitspracherecht und keine Macht darüber. Wenn man in Betracht zieht, dass die Natur von Entscheidungsprozessen in den meisten menschlichen Foren selbst heute noch patriarchalisch geprägt ist, ist es nicht zu weit hergeholt, anzunehmen, dass die normale Situation, wenn Mönche und Nonnen gemeinsam zu entscheiden hätten, so aussehen würde, dass die Nonnen nicht zum Zug kommen oder ignoriert würden und schließlich nur noch die Wünsche der Mönche abzunicken hätten. Somit ist der Vorteil eines getrennten Forums, dass die Nonnen ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Der Nachteil, oder ein Nachteil, ist, dass der Vinaya kein übergeordnetes Forum anbietet, in dem Themen, die sowohl Mönche als auch Nonnen betreffen, diskutiert und entschieden werden können. Das heißt nicht, dass solche Entscheidungen nicht möglich wären; sie haben lediglich nicht die Autorität des Vinaya.
Es muss also die gesamte Gemeinschaft entweder von Mönchen oder von Nonnen bei jeder Entscheidung einbezogen werden. Aber es ist noch mehr erforderlich. Die Gemeinschaft eines Ortes hat nicht einfach die Ermächtigung, zu entscheiden, was sie will. Nein: Jede Entscheidung, die getroffen wird, muss mit der Lehre und dem monastischen Regelwerk im Einklang stehen. Das ist ein Prinzip, das man als sammukhavinaya, als „Klärung in Anwesenheit“ kennt und das das grundlegendste und allgemeinste Prinzip aller Sangha-Verfahren ist. Es wird in Kd 14, dem Samathakhandhaka, definiert, wo es heißt, dass jede Entscheidung und jede Streitigkeit „in Anwesenheit“ von vier Dingen getroffen oder beigelegt werden muss:
- in Anwesenheit der Klostergemeinschaft, die sich innerhalb der jeweiligen Grenze aufhält,
- in Anwesenheit der Prinzipien des Dhamma,
- in Anwesenheit der Verfahrensabläufe, die im Vinaya niedergelegt sind,
- in Anwesenheit des betroffenen Individuums oder der betroffenen Individuen.
Im Sāmagāmasutta, MN 104, beschreibt der Buddha, wie ein solches Verfahren vor sich gehen sollte:
Und wie erfolgt eine Klärung in Anwesenheit der betroffenen Personen? Es ist wenn Mönche sich streiten: ‚Das ist die Lehre‘, ‚Das ist nicht die Lehre‘, Das ist die Übung‘, ‚Das ist nicht die Übung‘. Diese Mönche sollten sich alle in Harmonie zusammensetzen und die Richtlinien der Lehre gründlich durchgehen. Sie sollten diese disziplinarische Frage in Übereinstimmung mit den Richtlinien klären.
Das sind wichtige und zentrale Prinzipien für die Funktionsweise des Sangha, und doch stellen wir fest, dass sie in weiten Teilen des modernen Sangha systematisch ignoriert werden. Es wird über Menschen entschieden, die nicht anwesend sind. Man orientiert sich an örtlichen Gepflogenheiten und Traditionen. Die Prinzipien der Lehre werden nicht beachtet. Man folgt den Vorstellungen eines Rates, der von einer weltlichen Behörde eingesetzt ist. Ein Ordensältester trifft die Entscheidungen, ohne die Ansichten des übrigen Sangha zu berücksichtigen. Solche Entscheidungen sind illegitim und haben keine im Vinaya begründete Autorität. Der Sangha hat die Verantwortung, sich solchen falschen Auslegungen zu widersetzen und auf Sangha-Entscheidungen zu bestehen, die richtig organisiert und durchgeführt werden und die auf einem Konsens zwischen allen Mönchen oder Nonnen innerhalb der Grenze gegründet sind.
Wenn kein Konsens zustande kommt, hat der Sangha ein Ausweichverfahren, yebhuyyasika, die Mehrheitsentscheidung. Man sollte zu einem anderen, größeren Kloster gehen und die Angelegenheit vor die dortige Gemeinschaft bringen. Hartnäckige Probleme können in einem solchen Fall durch die Entscheidung der Mehrheit beigelegt werden.
Alle diese Prozeduren klingen ein bisschen wie ein Alptraum, und ich bin der erste, der das zugibt. Ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen schon in einer Organisation mitgewirkt haben, die versucht, Konsensentscheidungen zu treffen, nur um sich in endlosen Sitzungen und Diskussionen zu erschöpfen. Der Buddha vermeidet das mit einem einfachen Mittel: mit der Ernennung von Sangha-Beauftragten. Im Wesentlichen bedeutet das, dass der Sangha im Konsens darüber entscheidet, eins seiner Mitglieder mit der Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe zu betrauen, wie etwa sich um Gäste kümmern, die Vorräte verwalten oder Mahlzeiten arrangieren. Wenn ein Beauftragter einmal ernannt ist, hat er oder sie die Autorität, innerhalb des jeweiligen Bereichs zu handeln und zu entscheiden. Das unterliegt selbstverständlich den Richtlinien des Vinaya sowie Entscheidungen, die der Sangha als Ganzes trifft; aber im Großen und Ganzen kann und sollte ein Sangha-Beauftragter seine oder ihre Pflichten wahrnehmen, ohne sich vor dem weiteren Sangha zu rechtfertigen. Kein anderer Mönch, keine andere Nonne, und seien sie noch so erfahren, besitzt die Autorität, Maßnahmen der Sangha-Beauftragten in ihrem Verantwortungsbereich rückgängig zu machen. Wenn es darüber Meinungsverschiedenheiten gibt, sollte es dem Sangha wieder zur Diskussion und Beilegung vorgelegt werden. Dieses System führt dazu, dass Aufgaben in einem Kloster recht effizient erfüllt werden können, und längere Sitzungen beschränken sich gewöhnlich auf eine Diskussion beim vierzehntägigen uposatha.
Ich bin mir bewusst, dass das alles sehr unbehaglich und pedantisch klingt. Niemand schließt sich dem Sangha an, um mit den Menschen, mit denen er oder sie zusammenlebt, Rechtsstreitigkeiten auszufechten. Aber hier kommt das zweite Prinzip von sammukhavinaya zum Tragen: Vinaya-Verfahren müssen sich an den Prinzipien des Dhamma orientieren, und der lehrt Güte, Respekt und Vergebung. Der Vinaya enthält in der Tat viele Beispiele, wo der Buddha sich gegen kleinliches und streitsüchtiges Verhalten wendet. Der Sangha ist gehalten, das Durchführen disziplinarischer Maßnahmen zu vermeiden, besonders gegen solche, die neu sind und erst langsam Vertrauen fassen. Wenn Maßnahmen nicht vermeidbar sind, sollten sie so sanft wie möglich durchgeführt und so zügig wie möglich beendet werden. Alle „Strafen“ sind mild und angemessen und verlangen meistens nur, dass die schuldige Partei ihr Handeln einstellt und um Vergebung bittet.
Über Mönche oder Nonnen, die im Sangha häufig rechtliche Probleme einbringen, wird die Stirn gerunzelt, wohingegen die, die sich im Ordensleben bescheiden und freundlich zeigen, gelobt werden. Leider ist es im Leben so, dass nicht jeder zu jeder Zeit das Richtige tut. Und manchmal brauchen wir ein förmliches Mittel, um mit solchen Situationen umzugehen. Diese Verfahren fungieren als ein letztes Mittel, um sich gegen missbräuchliches oder unverschämtes Verhalten zu schützen, so dass die Mehrheit der anständigen Mönche oder Nonnen nicht durch das Fehlverhalten Weniger leidet.
Der Vinaya fordert zu freundlicher und liebevoller Unterstützung unter den Sanghamitgliedern auf. Frisch Ordinierte sollen ihre Mentoren wie Mutter oder Vater ansehen, und die Ältesten sollen die Neuen wie ihre Kinder betrachten. Im Sangha soll man sich stets mit freundlichen Augen betrachten, sich wie Milch und Wasser mischen, immer nach Möglichkeiten Ausschau halten, sich gegenseitig das Leben leichter zu machen. Das erstreckt sich selbst auf so einfache Dinge wie dass man das Essen, das man in seine Almosenschale erhalten hat, miteinander teilt. Aber es bedeutet auch, dass es manchmal nötig ist, rechtliche Mittel anzuwenden, um das Verhalten Einzelner zu zügeln. Das sollte niemals aus Bosheit oder Eifersucht geschehen, sondern nur, um die Gemeinschaft und betroffene Individuen zu schützen. Wenn jemand gewillt ist, seine oder ihre Fehler anzuerkennen und sich zu bessern, ist die Sache erledigt und die Gemeinschaft kann zur Tagesordnung übergehen. Solange das Prinzip der Güte und Vergebung an oberster Stelle steht, sind rechtliche Verfahren vermeidbar.