(von Silvie Weißkircher)
Erstmals veröffentlicht 2014 in der Zeitschrift „Gegenwart“ des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V.
Erblindet zu sein, empfinde ich wie ein Vakuum zwischen zwei Welten. Die eine kann ich nicht ganz loslassen, die andere ist mir noch immer ein wenig fremd. Ich bin mir nie sicher, ob mein Halbwissen ausreicht, um die Spielregeln beider Welten zu verstehen und meinen Platz darin zu finden.
Die Geheimnisse und Schätze der Wahrnehmung ohne Sehen blieben mir lange Zeit verborgen. Als ich als Zwanzigjährige an einem angeborenen und lange unentdeckten Grünen Star erblindete, war ich erst einmal viel zu sehr damit beschäftigt, mich in einer fast ausschließlich visuell organisierten Umgebung zurechtzufinden. Dass das Wort „blind“ häufig negativ besetzt ist, verstärkte mein ohnehin schon mulmiges Gefühl in dieser Zwischenwelt. Man spricht von Blindgängern, blindlings, betriebsblind, blinder Liebe und blinder Wut. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. So bot ich viele Jahre lang eine Menge Kreativität auf, um meine hochgradige Sehbehinderung zu verstecken. Dass ich damit einen Teil meiner Identität verleugnete, nahm ich „mit zwei zugedrückten Augen“ in Kauf. Seit ich mit Anfang 30 ohne Langstock oder Führhund nicht einmal mehr in gewohnter Umgebung alleine unterwegs sein kann, ist dem Gemogel allerdings ein Ende gesetzt.
Es war für mich anfangs schwierig, mit den neugierigen und oft grenzüberschreitenden Fragen von Passanten umzugehen. Wie wahre ich meine Privatsphäre, ohne dabei abweisend zu wirken? Und was sage ich, wenn meine Assistentin gefragt wird, was ich trinken möchte?
Inspirierende Anregungen bot mir die chinesische Kampfkunst Wing Tsun, die ich seit 21 Jahren erlerne. Beim Wing Tsun geht es nicht darum, einfach draufzuhauen, sondern es gibt eine nicht unwesentliche mentale Ebene. In der chinesischen Schrift wird das gleiche Zeichen für Krise und Chance benutzt. Dahinter steckt die Philosophie, die Perspektive stets darauf zu richten, was geht, ohne der Trauer über das, was nicht mehr geht, den Raum zu nehmen. Denn wenn wir unsere Trauer über einen Verlust nicht ausleben, haben wir nur eine andere Form der Verdrängung gewählt.
Beim Wing Tsun lernte ich, handlungsfähig zu bleiben, ganz gleich, ob ich verbal oder körperlich, süffisant oder brutal angegriffen werde. Ein Angreifer möchte in der Regel nicht kämpfen, sondern siegen. Er sucht in mir keine Gegnerin, sondern ein Opfer. Beim Wing Tsun ist Blindheit geradezu ein Vorteil, da es um blitzschnelle Reaktionen auf taktile Reize geht. Es ermutigte mich, dass die höchstgraduierten Meister der Welt mit verbundenen Augen trainieren. Ich erlernte erstaunlich einfache Techniken mit immenser Wirkung. Seit 18 Jahren unterrichte ich selbst und gehöre mit dem Ehrentitel Lady-Sifu und dem vierten Trainergrad zu den zehn anerkanntesten Frauen dieses Stils weltweit.
Die Philosophien der Kampfkunst schenkten mir viel Freiheit und Leichtigkeit. In meinen Wing Tsun-Schulen gebe ich dieses Lebensgefühl weiter. Dabei geht es darum, mit der Welt umzugehen, wie sie ist, und nicht darauf zu hoffen, dass sie zu der wird, die wir uns wünschen. Wegen meiner persönlichen Erfahrung liegt mir die Arbeit mit blinden und sehbehinderten Menschen jeden Alters besonders am Herzen.
In Situationen, in denen ich früher erschrocken und verlegen reagiert hätte, bin ich dank Wing Tsun souveräner geworden. Wenn mich und meine Begleitung heute ein Passant schroff darauf hinweist, dass wir unseren Wagen auf einem Behindertenparkplatz abgestellt haben, noch bevor ich meiner Hündin ihr Führgeschirr überziehen konnte, bedanke ich mich für den Hinweis und lobe seine Wachsamkeit.
Silvie Weißkircher (55) lebt auf einem kleinen Pferdehof im Saarland und arbeitet neben der Leitung ihrer Wing Tsun-Schulen als freiberufliche Künstlerin und Gesangslehrerin.
Dazu ein Bild: Eine brünette Frau mittleren Alters steht neben einem Pferd und schmiegt sich an seinen großen Kopf. Strahlend umfasst sie den Pferdekopf, ihre beringte Hand berührt zärtlich die weiße Blesse des Tieres.